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Der Schlüssel zum "Wilden Mann"

Der Eisenhans  - 

 

 

 

Anhand der Symbole dieses Märchen beschreibt Robert Bly den psychologischen und spirituellen Entwicklungsweg des kleinen Jungen zu einer gereiften Persönlichkeit, zum ganzen Menschen, zu einem in jeder Hinsicht erwachsenen Mann.

 

Die Geschichte beginnt mit einem achtjährigen Jungen der mit einem goldenen Ball spielt und diesen schließlich verliert.

 

Gold ist ein bedeutendes Symbol in dieser Geschichte. Im übertragenen Sinne steht es hier für das Kostbarste im Leben eines Menschen. Jeder besitzt es, sein oder ihr persönliches "Gold", und doch liegt es verborgen und muss erst im Laufe des Lebens erworben werden. Das gilt natürlich für beide Geschlechter gleichermaßen, jedoch ist der Weg zu dem eigenen persönlichen "Gold" sowie auch die Hindernisse, die es zu überwinden gilt, geschlechtsspezifisch unterschiedlich.

 

Die Geschichte vom Eisenhans erzählt uns, dass dieses persönliche "Gold" im zarten kindlichen Alter noch zugänglich ist, in einem Alter wo der Anpassungsdruck und die Konditionierung noch nicht ihre volle Wirkung entfaltet hat. Jedoch verliert der Junge schnell den goldenen Ball und die Sehnsucht danach, diesen zurück zu bekommen ist groß.

 

Zu seinem Schrecken erkennt der Junge in der Geschichte, dass er den goldenen Ball nur über den "wilden Mann" zurückbekommen kann. Und damit taucht symbolhaft eine weitere  innere Figur auf. So wie es in jedem Mann als einen Anteil seines Wesens den "kleinen Jungen" gibt, so gibt es darin auch den "wilden Mann". In unserer heutigen Gesellschaft macht diese maskuline Qualität den meisten Männern Angst. Entweder wird sie komplett verdrängt und der Mann befindet sich in einer chronischen Anstrengung "gut" zu sein, muss es jedem recht machen und ein braver netter Mann sein (Hang zum Softie). Oder der Mann muss sich immer wieder in seinem Machogehabe aufblasen, was häufig durch negative Aggression, Hang zu Gewalt und Übergriffigkeit zum Ausdruck kommt. Dieser Typ Mann kann genauso wenig die Qualität des "wilden Mannes" leben und lebt stattdessen die negative und destruktive Kehrseite davon.

 

Im Märchen landet der goldene Ball des Jungen in dem Käfig, in dem der wilde Mann gefangen gehalten wird. Ängstlich bittet er den wilden Mann, ihm seinen goldenen Ball zu  geben. "Du musst mich aus dem Käfig befreien, dann bekommst du deinen goldenen Ball" ist die Antwort des wilden Mannes. Nun taucht das nächste Symbol auf, der Schlüssel zur Tür des Käfigs, der Schlüssel, mit dem der wilde Mann befreit werden kann. Und nun wird dem Jungen klar, dieser Schlüssel liegt unter dem Kopfkissen seiner Mutter und er muss ihn sich nehmen.

 

Dieser Teil der Geschichte macht eine sehr bedeutsame und weitreichende Aussage für den Entwicklungsprozess des Jungen zum Mann. Die Mutterbeziehung ist für jedes Kind von zentraler Wichtigkeit, ja sogar überlebenswichtig. Sie gibt körperlich, psychisch und seelisch Nahrung, Schutz und Sicherheit. Ab einem gewissen Alter wird der Ablösungsprozess und die Abnabelung von der Mutterbeziehung ein notwendiger Entwicklungsschritt.

 

Kann es vielleicht sein, dass die Mutter mit ihrer fast grenzenlosen liebenden Fürsorge für ihr Kind, für ihren Sohn den entscheidenden Schritt ins Erwachsensein verwehrt oder zumindest hinauszögert, das Kind im Kindsein lassen möchte oder das Kind als Kind behalten möchte? Unser Geschichte deutet auf jeden Fall so etwas an. Der Schlüssel liegt unter ihrem Kopfkissen und der Jungen muss ihn sich nehmen auch auf die Gefahr hin, etwas Verbotenes zu tun.

 

Dieser erste Teil des Märchens vom Eisenhans ist so gehaltvoll, dass wir uns in der Männerzeit lange und intensiv damit beschäftigen können. Dabei gehen wir von einer bestimmten Grundannahme aus:

 

Man kann die Entwicklung zu einem ganzen und gereiften Menschen als einen Endlosprozess betrachten, der nie fertig wird, sondern immer weitergeht ein Leben lang. D.h. dass z.B. der Ablösungsprozess von der Mutterbeziehung in Teilschritten vonstatten geht. Natürlich hat jeder in der Adoleszenz eine irgendwie geartete Abnabelung vollzogen und doch ist sie bei genauem Hinschauen nur eine Teilablösung. Jeder Mann lebt noch einen mehr oder weniger kleinen oder großen Anteil von Mutterbeziehung in seiner nahen intimen Beziehung zur Frau.

 

In jedem gibt es eine mehr oder weniger fühlbare Sehnsucht nach dem eigenen persönlichen "Gold", die in verschiedenen Lebensphasen immer mal wieder auf unterschiedliche Weise auftaucht.    

 

Jeder hat irgendwann Begegnungen mit seinem inneren kleinen Jungen und mit seinem inneren Anteil des wilden Mannes. Und das passiert individuell und in verschiedenen Altersphasen auf vielfältige Weise.

 

Und das alles schlummert zu einem großen Teil in unserem Unbewußten. So haben wir alle die Tendenz dieses Unbewußte nicht zu sehr wach zu rütteln. Viele Männer (und natürlich auch Frauen) richten sich in ihrem Leben ein, so dass es sich einigermaßen sicher und bequem anfühlt, z.B. ein Mann, der eine gewisse Bemutterung seiner Frau bereitwillig annimmt. Dagegen gibt es auch nichts zu sagen, solange man sich freiwillig dazu entscheidet. Nur der Preis, den der Mann dafür zahlt, ist schlicht und einfach, dass er seinen Weg nicht weitergeht. Und da zeigt uns das Märchen, dass die Geschichte sehr viel weiter gehen kann und ein wahrhaftes Abenteuer werden kann, dass es sehr viel zu gewinnen gibt, dass der junge Mann schließlich zu seinem Gold findet, dass sein Gold in der Welt erkannt wird, d.h. dass er selbst als das, was er wirklich ist, erkannt wird. Und vor allem dass der Mann sich selbst erkennt, dass er zu seinem ganzen Potenzial findet und es lebt …

 

 

 


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